HISTORISCHES

DIE MENGERZEILE

Am 1. Juli 1993 bezogen 31 internationale Künstlerinnen und Künstler das 1908 errichtete vierstöckige Fabrikgebäude in der Mengerzeile 1-3 in Berlin-Treptow. Die ehemalige Pianofabrik Hoepfner, direkt an der Bezirksgrenze zu Neukölln gelegen, war von 1970 bis 1991 vom VEB Deutsche Schallplatte, dem einzigen offiziellen Musiklabel der DDR, als Verkaufsstelle und Lager genutzt worden. Um die eigenen Interessen vor der Öffentlichkeit optimal vertreten zu können, gründete die KünstlerInnengruppe im Oktober 1993 den Verein "Mengerzeile e .V.", der bei Aufbau und Instandsetzungsarbeiten finanzielle Hilfestellung vom Bezirksamt Treptow sowie anfangs Unterstützung der damaligen Hausverwaltung GSE erhielt. Hauptmieter der ausgewiesenen 2201 Quadratmeter Nutzfläche war zunächst die Atelier-GmbH des Kulturwerks im BBK Berlin. 1997 übernahm der Verein Mengerzeile e.V. den Hauptmietvertrag und verwaltete das Atelierhaus bis zur Sanierung nach dem Verkauf 2014 an Argos Real Estate selbst. (mehr dazu → Rettung und Erhalt)

DAS HAUS

Der Tischler August Jaschinsky (1849-1936), Gründer der Firma A. Jaschinsky GmbH Berlin (1880), später Hoepfner Pianos, ließ das Fabrikgebäude an der Mengerzeile in Berlin-Treptow, angrenzend an den Bezirk Neukölln, 1908 errichten. Das anliegende Wohnhaus zur Bouchéstraße, in dem Angestellte der Fabrik und auch die Familie Jaschinsky wohnten, entstand drei Jahre später. 1911 übernahmen die Söhne Oskar und Hugo Jaschinsky die Geschäftsführung des Unternehmens, in dem während der "Goldenen Zwanziger" an die hundert Angestellte arbeiteten.

PIANO-JUBILÄUM HOEPFNER, CA. 1908, © ARCHIV FAM. RIEDEL

Im Zuge der wirtschaftlichen Depression der 1930er-Jahre war die Geschäftsleitung zu Einsparungen gezwungen und vermietete einzelne Etagen an andere Handwerksbetriebe. Für die Pianofabrikation wurden nur noch die Räume im Hochparterre und im zweiten Stock genutzt sowie Schuppen zur Lagerung. Die Ehefrau Oskar Jaschinskys eröffnete einen Reparaturdienst und sicherte mit ihrem "Pianohandel Johanna Jaschinsky" einige der Arbeitsplätze, trotzdem schrumpfte der Betrieb bis auf zwanzig MitarbeiterInnen. Während des Zweiten Weltkriegs ließ Oskar Jaschinsky Kleiderschränke für das Rote Kreuz bauen. Nach Kriegsende übernahmen die Werkstätten Reparaturen von beschädigten Möbeln und Neuanfertigungen für Mitglieder der russischen Besatzung. Pianos wurden für den Export nach Schweden gebaut. Nach der Aufteilung Deutschlands in Alliierten-Zonen und der Ziehung der Ost-West-Grenze war die direkte Verbindung aus Treptow, das zum Berliner Osten gehörte, zu wichtigen Rohstofflieferanten im Westen abgeschnitten. Um Aufträge für die Fabrik zu retten, gründete Rosemarie Jaschinsky, eine der beiden Töchter der Jaschinskys, eine Reparaturwerkstatt in Berlin-Neukölln am Weigandufer, das im Westsektor lag. Ende 1949 wurde unter der DDR-Regierung eine Kooperation von Ost- und Westbetrieben gesetzlich untersagt, und Rosemarie Jaschinsky konnte den Betrieb des Vaters nur noch mit Kleinmaterial versorgen, das im Ostteil der Stadt fehlte.

HOEPFNER PIANOS, 1950, © ARCHIV FAM. RIEDEL

1956, nach dem Tod Oskar Jaschinskys, wurde die Firma Hoepfner-Pianos von der Witwe Johanna Jaschinsky liquidiert. Von 1970 bis 1991 zog der VEB Deutsche Schallplatte, ab 1990 Deutsche Schallplatten GmbH, mit Verkaufsstelle und Lager in das Fabrikgebäude in der Mengerzeile 1-3, nachdem bis dahin die Verwaltung des HO-Kreisbetriebs Treptow mit Büros und Lager im Haus gewesen war.

DIE MIETER*INNEN

Im Juli 1992 fand sich eine Gruppe von deutschen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlichster Disziplinen und ästhetischer Konzepte zusammen, die ein Fabrikgebäude am Schmollerplatz in Treptow, angemietet von der Atelier-GmbH des Berufsverbandes Bildender Künstler (BBK) Berlins, bezog. Alle hatten eines gemeinsam: Sie waren von Atelierkündigungen oder extremen Mieterhöhungen betroffen bzw. produzierten ihre Kunst zu Hause in engen räumlichen Verhältnissen und suchten dringend einen bezahlbaren Arbeitsraum. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich dort ein Zentrum lebendiger Kreativität entwickelt, und der größte Teil der Künstlerinnen und Künstler wollte aufgrund dieser Erfahrung gegenseitiger Inspiration und Dynamik die Gruppe erhalten. Das Gebäude am Schmollerplatz – der Nutzungsvertrag sah nur ein Jahr vor – wurde im September 1993 abgerissen, um Platz für den Wohnungsbau zu schaffen. Die KünstlerInnengruppe begann bereits lange vor dem Auszug nach einem neuen Objekt zu suchen und fand dies in direkter Nachbarschaft in der Mengerzeile 1-3: eine alte Pianofabrik, die während der DDR-Regierungszeit lange als Lager und Verkaufsstelle des VEB Deutsche Schallplatte genutzt worden war. Nach dem Auszug der Schallplatten GmbH 1991, die aus dem VEB Deutsche Schallplatte hervorgegangen war, stand das Haus bis auf eine Büroetage im vierten Stock, die eine Künstlerin gemietet hatte, seit einem Jahr leer. Das Gebäude war in akzeptablem baulichen Zustand, wenn auch sehr reparaturbedürftig, und bot genug Raum für die KünstlerInnengruppe, konnte sogar noch weitere Ateliersuchende aufnehmen.

ABRISS DER FABRIK IN DER SCHMOLLERSTRASSE, 1994, © MARGUND SMOLKA

Durch die Atelier-GmbH des Kulturwerks im BBK Berlin wurde das vierstöckige Haus mit ausgewiesenen 2201 Quadratmetern Nutzfläche, angrenzender Remise und Garagen von der Wohnungsbaugesellschaft "Stadt und Land" angemietet und am 1. Juli 1993 bezogen. Die KünstlerInnen ließen die alte Heizungsanlage instand setzen, entrümpelten und renovierten Räume, zogen Wände und führten notwendige Reparaturen durch. Innerhalb kürzester Zeit entstanden Ateliers, die je nach Bedarf und Finanzkraft der MieterInnen 15 bis 180 Quadratmeter umfassten. (Im Laufe der Jahre wurden die großen Ateliers aus finanziellen Gründen weiter aufgeteilt.) Um die eigenen Interessen vor der Öffentlichkeit optimal vertreten zu können, gründete die Künstlergruppe im Oktober 1993 den Verein "Mengerzeile e.V.", der bei Aufbau und Instandsetzungsarbeiten finanzielle Hilfestellung vom Bezirksamt Treptow sowie anfangs Unterstützung der damaligen Hausverwaltung GSE erhielt.

"PIONIERE", 1994, ARCHIV MENGERZEILE

1994 stellte sich der Verein Mengerzeile der Öffentlichkeit mit einer kleinen Broschüre vor, für die der damalige Senator für Kulturelle Angelegenheiten Ulrich Roloff Momin das Vorwort schrieb: "In einer Zeit des immer größeren Ateliernotstandes in Berlin ist es einer Gruppe deutscher und internationaler Künstlerinnen und Künstler gelungen, in Eigeninitiative und Selbsthilfe ein neues Atelierhaus in Berlin zu schaffen. Seit seiner Eröffnung im Juli 1993 ist das Atelierhaus Mengerzeile ein lebendiger Ort der Auseinandersetzung mit der Kunst, an welchem das Ziel des Vereins Mengerzeile – den nationalen und internationalen Künstleraustausch zu fördern – erfolgreich praktiziert wird. Ich möchte an dieser Stelle den Künstlerinnen und Künstlern meinen persönlichen Dank für ihr Engagement aussprechen und meinem Wunsch Ausdruck verleihen, daß trotz der schwierigen Zeit dieses sehr förderungswürdige und beispielhafte Projekt auf Dauer gesichert wird."

DIE KUNSTHALLE m3

„Die m3 das war ja der Anfang von allem!“, erinnert sich die Malerin Miriam Vlaming an ihre erste Berliner Ausstellung. Als sie Anfang 2001 aus Leipzig „angedackelt“ kam, wo sie bei Arno Rink an der HGB Malerei studiert hatte, las sie den TIP-Artikel über die neu aufgebaute Galerie im Atelierhaus Mengerzeile. Der sieht ja aus wie Beuys, dachte sie beim Blick auf das Foto des Galeriemachers und Künstlers Thomas Henriksson. Und den suchte sie dann auf. Henriksson, der einige Jahre ein Atelier in dem Treptower Künstlerhaus gehabt hatte, war dabei, sich seinen Traum von einer eigenen Galerie zu erfüllen, und renovierte die alte Remise dort im Hinterhof. Er wollte einen Ort schaffen, den die Kreativen als Teil von sich begriffen. Nichts Kaltes und Distanziertes, ohne Hemmschwelle für BesucherInnen. Eine der ersten Ausstellungen hatte er mit der schwedischen Künstlerin Ulrika Segerberg konzipiert, die ebenfalls ein Atelier in der Mengerzeile hatte. Die Arbeiten Miriam Vlamings gefielen ihm so gut, dass er kurzerhand eine Doppelschau daraus machte. Vlaming erinnert sich noch gern an den „dunklen, miefigen Keller“ des Atelierhauses, in dem die Planungen mit jeder Menge Bier besiegelt wurden.

Neben jährlichen Ausstellungen der KünstlerInnen des Hauses in der Kunsthalle m3 („Haussalon“) und jenen, die in diesem Zeitraum in den Gastateliers arbeiteten, wurde die Halle ein Forum junger Kunst und Spiegel überregionaler bzw. internationaler Strömungen. Hier konnte experimentiert und ausprobiert werden, unabhängig vom Druck des Kunstmarktes. Des Weiteren fand oft ein Austausch mit anderen Atelierhäusern statt. Der Verein förderte die Ausstellungstätigkeit durch die Übernahme der Betriebskosten. Soweit es die Möglichkeiten erlaubten, wurden ebenso Einladungskarten, Öffentlichkeitsarbeit und die Ausrichtung der Eröffnungen vom Verein übernommen.

Die zur Jubiläumsausstellung 2011 gezeigten Arbeiten gaben ein Bild vom lebhaften Programm der Galerie, in der jährlich um die zehn Ausstellungen stattfanden. Das Null-Budget-Projekt wurde zu einem Ort für Kunst jenseits des Mainstreams. So manche Kunstschaffenden, die inzwischen gut im Geschäft sind wie Miriam Vlaming, hatten hier ihre erste Berliner oder Einzelausstellung, an die sie noch gern zurückdenken. Sechs Jahre später, im Mai 2017, wurde die alte Remise, der Pferdestall der Pianofabrik, abgerissen, um einem Neubau zu weichen. Das war der Preis für das Bleiberecht der KünstlerInnen, die sich weinenden Auges von der schönen großen Halle mit einer rauschenden zweitägigen Ausstellung („Raze-Raise“) verabschiedeten. 2019 erfolgte dann die „Auferstehung“ in anderem Format …

LITERATUR

Zum 20. Geburtstag des Mengerzeile e.V. entstand die 184 Seiten umfassende Dokumentation von Constanze Suhr zur Geschichte des Hauses und des KünstlerInnenvereins mit einem Streifzug durch den Bezirk Treptow-Köpenick und die Atelierhaus-Szene Berlins. Das Buch ist bis auf einige wenige Exemplare des Vereins nur noch antiquarisch erhältlich.

20 JAHRE ATELIERHAUS MENGERZEILE 1993–2013